In diesem Artikel zeige ich anhand eigener Erfahrungen aus dem Klassenzimmer, warum Jugendliche mit Selbstorganisation oft überfordert sind und wie kleine, alltagstaugliche Routinen – wie der Hausaufgaben-Check, kurze Aufräum-Challenges oder Mini-Lerneinheiten – nachhaltiger wirken als komplexe Konzepte. Eltern erhalten konkrete Ideen, wie sie ihre Kinder mit einfachen, wiederkehrenden Strukturen unterstützen und dadurch Selbstvertrauen und Eigenverantwortung stärken können.

Über die Autorin:
Katarina Gruler kennt die Herausforderungen mit Teenagern aus erster Hand – als langjährige Klassenlehrerin ebenso wie als Eltern-Coach. Mehr als zehn Jahre begleitete sie Jugendliche an einer Werkrealschule in Baden-Württemberg durch die wohl turbulenteste Zeit ihres Lebens: die Pubertät. Heute hilft sie als Eltern-Teen-Coach Müttern und Vätern dabei, wieder Zugang zu ihren Jugendlichen zu finden – mit einem klaren Blick für das, was Teenager wirklich brauchen und konkreten Wegen, wie Eltern sie dabei stärken können. Auf ihrem Instagram-Kanal @eltern_mit_teenager und ihrer Website eltern-mit-teenager.de teilt sie Impulse, die Eltern entlasten und Familien stärken.
Warum weniger oft mehr ist, wenn es um Struktur im Lernen geht
Ich erinnere mich noch gut an meine 8. Klasse, in der wir voller Enthusiasmus die sogenannten IL-Stunden (Individuelles Lernen) einführten. Die Idee: Die Jugendlichen sollten mit einem Wochenplan selbst entscheiden, welche Aufgaben sie wann bearbeiten. Endlich Eigenverantwortung! Endlich Selbstständigkeit! Endlich weniger Druck von außen, dachten wir. Die Realität sah anders aus.
Schon in der ersten Wochen wurde klar, dass die meisten Jugendlichen heillos überfordert waren. Da saß Leon, der sofort mit den schwierigsten Matheaufgaben startete und nach 15 Minuten frustriert den Stift auf den Tisch knallte, weil er nicht mehr weiterkam. Daneben Marie, die sich clevererweise nur noch Fächer eintrug, die sie mochte : Englisch, Kunst, vielleicht Biologie, während Mathe bis Freitag unberührt blieb. Und dann Paul, der sich zwar fleißig alle Aufgaben eintrug, aber die Hälfte der Zeit damit verbrachte, seinen Tisch zu sortieren oder den Planer zu verzieren.
Ein weiteres großes Problem, dass wir während der Umsetzung bemerkt haben: In den IL-Stunden war nicht immer der richtige Fachlehrer da. Wer Mathe eingeplant hatte, während ein Englischkollege Aufsicht führte, bekam kaum Unterstützung. Und so sammelten sich die Frustrationserlebnisse. Spätestens nach ein paar Monaten war klar: In dieser Form war das Konzept für unsere Schule gescheitert.
Erkenntnisse aus den IL-Stunden
So ernüchternd das Ergebnis war: Ich würde die Erfahrung nicht missen. Denn sie hat uns Lehrkräften und auch mir persönlich deutlich gezeigt: Selbstorganisation fällt Jugendlichen nicht deshalb schwer, weil sie „faul“ sind. Sie können es schlicht noch nicht. Und das ist kein Zufall. Ich habe mich schon mit der ersten Übernahme meiner 9. Klasse mit Gehirnentwicklung in der Pubertät beschäftigt und weiß: Der präfrontale Cortex, das Kontrollzentrum für Planung, Prioritätensetzung und Impulskontrolle, ist bei Jugendlichen noch mitten im Umbau. Erst mit Mitte 20 ist er voll ausgereift. Wenn wir also erwarten, dass 13-Jährige plötzlich ihre Woche strukturiert planen wie ein Manager, überfordern wir sie maßlos.
Für mich habe ich trotzdem drei zentrale Erkenntnisse aus den IL-Stunden gewonnen:
- Freiheit allein reicht nicht: Jugendliche brauchen Orientierung, sonst ist Selbstorganisation schnell eine Last.
- Leitplanken schaffen Sicherheit: Ein strukturierter Wochenplan, Aufgaben in klarer Reihenfolge, Vorgaben wie „Bearbeite jede Woche mindestens eine Aufgabe aus jedem Fach.“ – das gibt Orientierung, lässt aber trotzdem Freiraum für eigene Entscheidungen.
- Mini-Routinen sind Gold wert: Schon kleine Handgriffe, wie das Eintragen der nächsten Aufgabe in den Planer, fördern die Selbststeuerung, geben Erfolgserlebnisse und verhindern, dass Jugendliche im Chaos stecken bleiben.
Diese Erkenntnisse führten zu einer weiteren wichtigen Einsicht: Große Konzepte allein genügen nicht. Es sind die kleinen, wiederkehrenden Routinen, die nachhaltig wirken.
Kleine Routinen im Unterricht
Auch wenn wir die IL-Stunden als Konzept wieder abgeschafft haben, wollte ich nicht alles daraus verwerfen. Gerade das Scheitern hat mir gezeigt: Oft wirken kleine Veränderungen mehr als große Umbrüche. Deshalb habe ich ein paar Routinen in den normalen Unterricht integriert bzw übernommen.
Ein Beispiel: Am Ende einer eher „offenen“ Stunde bleibt immer ein kurzer Moment, in dem die Schülerinnen und Schüler festhalten, womit sie beim nächsten Mal weitermachen wollen. Einleitung schreiben, Hauptteil überarbeiten, Sprache und Rechtschreibung kontrollieren… Das dauert kaum zwei Minuten und sorgt dafür, dass sie beim nächsten Einstieg nicht planlos anfangen, sondern einen klaren Anknüpfungspunkt haben. Diese winzige Routine klingt fast banal, aber sie zwingt die Jugendlichen, sich zu entscheiden, den Überblick zu behalten und Verantwortung für den nächsten Schritt zu übernehmen.
Weitere Routinen, die sich im Alltag bewährt haben:
- 3-Minuten-Challenge für den Schulranzen: Am Ende der Woche räumen wir gemeinsam die Schultaschen auf. Drei Minuten, mehr nicht. Zettel abheften, alte Arbeitsblätter wegwerfen, Müll entsorgen. Denn Lernen funktioniert nur, wenn alles an seinem Platz ist.
- Hausaufgaben-Check: Bevor die Stunde endet, tragen die Schülerinnen und Schüler die Hausaufgaben ein und ich lasse stichprobenartig prüfen, ob alle sie wirklich notiert haben. Das dauert kaum länger als eine Minute, verhindert aber viel Stress am nächsten Tag. Und vor allem wirke ich dem „das merk ich mir“ entgegen.
Was sich Eltern mit nach Hause nehmen können
Meine Erfahrung: Es geht nicht um stundenlange Lernpläne oder ständige Kontrolle, sondern um Mini-Routinen, die sich leicht in den Alltag einbauen lassen:
3-Minuten-Aufräumen
Ob Schreibtisch, Ranzen oder Nachttisch: Drei Minuten mit Timer reichen, um für Überblick zu sorgen. Wichtig: Nicht perfektionistisch, nicht endlos. Einfach kurz durchatmen, Ordnung schaffen, fertig.
Hausaufgaben-Check
Am Mittag (gemeinsam) einen Blick in den Plan werfen: Ist alles eingetragen? Ist klar, wann es erledigt wird? Diese kurze Routine verhindert, dass Panik ausbricht.
Mit dem Leichten anfangen
Jugendliche müssen nicht mit dem schwierigsten Fach starten. Wer zuerst eine kleine, einfache Aufgabe erledigt, kommt schneller ins Tun und steigt danach leichter ins Anspruchsvolle ein.
Wie Eltern die Selbstorganisation ihrer Kinder unterstützen können
Hilfe zur Selbsthilfe
Besonders wertvoll: Wenn Kinder bei Aufgaben ins Stocken geraten, ist es hilfreich, nicht sofort die Lösung vorzugeben. Viel wirkungsvoller ist es, wenn sie zunächst selbst erklären, was sie nicht verstanden haben und welche Lösungswege sie schon versucht haben. Oft ergibt sich die Antwort schon beim Erklären. Und falls nicht, kann man gemeinsam überlegen, wo weitere Hinweise zu finden sind: im Schulbuch, in Mitschriften oder auch online.
Nur wenn die Hürde wirklich nicht allein genommen werden kann, springen die Eltern unterstützend ein. Auf diese Weise lernen Kinder, sich Schritt für Schritt selbst zu helfen und erleben, dass sie es am Ende „selbst geschafft“ haben. Genau dieses Gefühl ist ein starker Motor für Motivation und Organisation.
Lernen in kleinen Portionen
Auch das Lernen kann gut organisiert werden: klein anfangen, regelmäßig wiederholen. Lieber fünf Vokabeln plus zwei bekannte zur Wiederholung abfragen als eine ganze Liste auf einmal. Dasselbe Prinzip funktioniert beim Einmaleins, bei Grammatikregeln oder Biologie-Inhalten. Weil die Portionen klein sind, fällt es leichter, sich aufzuraffen. Und durch die Wiederholung verankert sich das Gelernte im Langzeitgedächtnis, während das Arbeitsgedächtnis entlastet wird.
Lernen in den Tagesablauf integrieren
Damit diese Mini-Einheiten wirklich zur Routine werden, hilft ein fester Zeitpunkt im Tagesablauf, etwa direkt nach dem Heimkommen oder vor dem Abendessen. Am Anfang kostet es Überwindung, für Eltern wie für Jugendliche. Doch mit der Zeit läuft es fast automatisch, weil es nicht mehr als „Zusatzaufgabe“ wahrgenommen wird.
Ein spielerischer Trick: Lasst den Würfel entscheiden. Jede Seite steht für ein kleines Wiederholungsthema: Vokabeln, ein Mathe-Aufgabentyp, ein Grammatikthema, ein Biologie-Begriff. Das Würfeln sorgt für Abwechslung und nimmt den Druck, jedes Mal bewusst wählen zu müssen.
Fazit: Selbstorganisation braucht Selbstvertrauen
Und damit sind wir beim Kern: Selbstorganisation ist nicht nur eine Frage von Technik und Planung. Sie hängt eng mit Selbstvertrauen zusammen. Wer kleine Widerstände überwindet, sei es die ungeliebte Matheaufgabe oder das Chaos im Ranzen, stärkt damit das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Selbstorganisation bedeutet nicht, dass alles sofort perfekt läuft. Sie entsteht in kleinen Schritten, durch Routinen, durch Erfahrungen, manchmal auch gegen die Widerstände, die Schule oder das Leben bereithalten. Jeder kleine Sieg zählt. Und genau diese Siege sind es, die Jugendliche stark machen – nicht nur für die Schule, sondern fürs Leben.




